Sie ist wieder da, die ILMC. Der Weltlage entsprechend unter der Überschrift „Brave New World.“ Allerdings erstmals im April, anstatt wie gewohnt im März und mit deutlich mehr Grün im nahe gelegenen Londoner Hyde Park. Mit dabei: ARTery, eine Hilfsmaßnahme für Musikschaffende aus der Ukraine, wider der Krise und Krieg zur Zeitenwende.
text Manfred Tari
redaktion Isabel Roudsarabi
symbolfoto POHODA Festival
grafik ARTery
lesezeit 4 Minuten
Fast schon überraschend, aber doch gewohnheitsgemäß, löste dieses Branchenmeeting alle Erwartungen ein, die das Publikum einer Veranstaltung in dieser Preisklasse erwarten können. Ist doch das Ticket an der Tageskasse zu £649 (760 Euro) nur einer der Faktoren, die zum standesgemäßen Ambiente dieses Business-Blockbusters beitragen. Wesentlich und einer der Erfolgsgaranten der International Live Music Conference war und ist der internationale Zuschnitt und die Güteklasse der Besuchendenschaft. Zählen doch nicht wenige der rund 1.200 Fachbesucher*innen aus 60 Ländern zur Upperclass des Konzertgeschäfts.
Aber trotz eines allgemein zu beobachtenden Stimmungshochs, sind die letzten zwei Jahre keineswegs spurlos an der Branche vorbeigegangen.
Nicht zuletzt wurde dies auch anhand des Zeitplans der Konferenz deutlich. Zeitgleich fanden am Nachmittag des 27. April zwei Programmpunkte statt, welche den Kontrast zwischen Krieg und Frieden kaum besser hätten veranschaulichen können.
Große Deals und harte Tür
Während im kleineren Saal das Panel „Ukraine: Conflict in Europe“ vonstatten ging, trat parallel im etwas größeren Saal Casey Wasserman zum Keynote-Interview an. Nachdem einen Tag zuvor die Übernahme der Konzertagentur Paradigm durch den Unternehmer bekannt wurde, verkörperte Wasserman - ein waschechter Entertainment-Mogul mit Wohnsitz in Hollywood - im übertragenen Sinne das eigentliche Top-Thema des Tages. Passend dazu fand am Vorabend die dazugehörige Firmenparty mit harter Tür und strenger Gästeliste unter dem neuen Firmennamen „Wasserman Music“ statt.
Um die Dimension und Bedeutung des Deals zu verdeutlichen, langt ein Blick auf einen Auszug der Liste der ungefähr 500 Künstler und Künstlerinnen dieser Agentur: Imagine Dragons, Janet Jackson, Billie Eilish, Tiësto, Liam Gallagher, Missy Elliott, Shawn Mendes, Sia, Machine Gun Kelly, Disclosure, Bon Iver, Ellie Goulding, FKA twigs, Mark Ronson, Rita Ora, Robyn und Take That.
Das Interview mit Wassermann gestaltete sich interessant, aber überschaubar. Wie das halt so ist, wenn eine Geschäftsgröße mutmaßlich aus dem Nähkästchen plaudert und völlig ungeniert darüber berichtet, wie er, selbstverständlich in leitender Funktion, sich die Umsetzung der Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles vorstellt.
Über die Dringlichkeit
Die Erzählungen im Nebenraum hingegen waren alles andere als Business-driven-blümerant. Mit der gebotenen Ernsthaftigkeit schilderten die Teilnehmenden aus Estland, Polen, Rumänien, Russland und der Ukraine, was der Krieg in der Ukraine mit ihnen macht und für sie bedeutet.
Direkt oder auch indirekt mit den mörderischen Ereignissen im Nachbarland konfrontiert zu sein, ist nun mal ein anderes Lebensgefühl, als mit Olympia-Chef Thomas Bach und seinen Kolleg*innen über "the World's biggest Live-Event" zu verhandeln.
Dennoch, es wäre nicht die ILMC, wenn ein Ereignis wie der Krieg in der Ukraine nicht angemessen aufgegriffen und vor Ort aus internationaler Sicht verhandelt wird. Dazu gehört beispielsweise auch, wenn Mikolaj Ziółkowski, der Veranstalter vom Alter Art-Festival in Polen, in diesem Zusammenhang kritisch anmerkt: „Unser größtes Problem ist der wirtschaftliche Einfluss von Österreich, Deutschland und Ungarn.“
Verständlich also, wenn die Dringlichkeit und Motivation von Europäer*innen nahe der Ukraine dem Angriff Russlands entgegenzuwirken eine andere ist, als jene von Schweizer Banken, Red Bull oder Russland nahestehenden Politiker*innen am rechten oder linken Rand des politischen Spektrums.
Neue Horizonte erkunden
Für Codruta Vulcu, Veranstalterin des rumänischen Festivals ARTmania und Teilnehmerin des besagten Panels, hatte diese Ausgabe der ILMC jedenfalls angesichts des Krieges in der Ukraine eine sehr emotionale Ebene. Er lastet sehr schwer sagt sie und: „wir alle konnten die Intensität dessen spüren, was in diesem Teil der Welt geschieht und welche Auswirkungen das auf die Kultur und die Menschheit insgesamt hat und haben wird.“ Die ILMC war in mehr als einer Hinsicht eine immense Unterstützung, fügt Vulcu an, und bot die Plattform, vor Hunderten von Delegierten und Kollegen die artery.community ins Leben zu rufen - eine paneuropäische Kreativbewegung, die sich für die Unterstützung von Künstler*innen und Fachkräften aus der Kreativbranche einsetzt, die aus Konfliktgebieten fliehen, um ihr Leben in Würde im Ausland wieder aufzunehmen.
Der osteuropäische Markt steht zweifelsohne vor neuen Herausforderungen, erklärt Vulcu: „die keiner von uns je erleben wollte.“ Besonders nach zwei Jahren der aufgezwungenen Untätigkeit.
Der Krieg in der Ukraine wirft einen enormen Schatten auf unsere Pläne für diesen Sommer und darüber hinaus, aber vor allem geht es jetzt darum, den Ukrainer*innen zu helfen, an sichere Orte zu gelangen.
ARTery ist ein gemeinsames Projekt von ARTmania, Music Export Ukraine und dem Pohoda Festival in der Slowakei und will mit einem Job-Portal helfen, passende Jobs für ukrainischen Kreative in Europa zu finden. Wir können nicht zulassen, argumentiert die Veranstalterin, dass: „die Musikschaffenden ihre Karrieren, in die sie so viele Ressourcen investiert haben, nur wegen des Krieges aufgeben. [...] ARTery will die vertriebenen ukrainischen Musikschaffenden dabei unterstützen, neue Horizonte in Europa zu erkunden - um einen Job zu finden, bis sich die Musikbranche in einer friedlichen Ukraine erholt.“ Sie appelliert daher an die Branche beim Ausbau dieser Plattform mitzuwirken und offene Stellen und Jobs unter artery.community zu melden.
Bleibt allen Beteiligten zu wünschen, dass dieses Projekt seinen Zweck erfüllt und dazu beiträgt, den vom Krieg betroffenen Musikschaffenden in der Ukraine etwas Besseres zu bieten, als Ihnen gegenwärtig zugemutet wird.