Neben panischen Facebook-Kommentaren, die entsetzt eine Frauenquote für Festival Line-ups witterten, sorgt die Ankündigung der Keychange Initiative, gemeinsam mit 45 beteiligten Festivals bis 2022 ein Geschlechtergleichgewicht auf Festivalbühnen anzustreben, vor allem für eins: Sie garantiert eine dauerhafte Auseinandersetzung mit dem Thema Gender-Gap auf Festivals. Jedenfalls bis 2022.
text Henrike Schröder
redaktion Tina Huynh-Le
fotos Sascha Krautz, Jean-Paul Pastor Guzmán, Till Petersen, Lino Adriano
Im Interview erzählen Vanessa Reed, CEO der initiierenden Plattform PRS Foundation, sowie Laureen Kornemann und Johann Schwarz vom Alínæ Lumr Festival von Quoten, der Bedeutung von Vorbildern und dem Sumpf der Männlichkeit.
Pünktlich zur Festivalsaison machen sich musikaffine Online-Magazine seit einigen Jahren die Mühe, Festivalplakate großer, internationaler Festivals in animierte Gifs zu verwandeln. Erst sieht man das Plakat, gefüllt mit so viel Line-up wie eben drauf passt. Dann verschwinden alle männlichen Acts, sodass nur noch jene mit weiblichem Anteil übrigbleiben – und dazwischen jede Menge Leere. Bei Rock am Ring blieben 2018 von 73 Acts acht übrig, beim britischen Wireless Festival waren es drei von 33 und beim Lollapalooza Berlin 14 von insgesamt 60 Acts. Und auch für 2019 sieht es momentan nicht besser aus: Das Hurricane Festival bestätigte bereits die ersten 25 Acts – der Frauenanteil: 0%. Und bei Rock am Ring haben fünf von den 29 bisher bestätigten Acts einen weiblichen Anteil.
Und während Jahr für Jahr nach dem Festival mit dem geringsten Frauenanteil gesucht wird, um sich mit Hilfe von Wackelbild-ähnlichen Gifs darüber zu empören, sucht die britische Musikförderungs-Plattform PRS Foundation am anderen Ende der Fahnenstange. 2017 gründete die Plattform die Keychange Initiative, um mit Blick auf die Festivallandschaft weiblichen Nachwuchs zu fördern. Gemeinsam mit einigen Festivals formuliert sie das Ziel, bis 2022 ein Geschlechtergleichgewicht auf den Bühnen herzustellen. 50:50. Anfang 2018 unterstützten bereits 45 internationale Festivals die Kampagne, mittlerweile sind es über 120 – darunter das schwedische Way Out West, das finnische Flow Festival, das isländische Iceland Airwaves und die deutschen Festivals Pop-Kultur, Reeperbahn Festival und Alínæ Lumr.
„Ich finde es aufregend, wie schnell das Netzwerk gewachsen ist. Es ist schön zu sehen, dass auch BBC Proms sich dem Thema angenommen hat, da so die Debatte über Musikindustrie-Konferenzen hinaus auf klassische Musik ausgeweitet wird. Auch dass sich so viele Festivals außerhalb von Europa, wie SIM in Sao Paulo und Clockenflap in Hong Kong engagieren, beeindruckt mich. Dadurch kann Keychange zu einem wirklich internationalen Programm werden“, erzählt Vanessa Reed, CEO der PRS Foundation im Interview. Trotzdem sind viele Festivals noch nicht bereit, sich den Zielen der Initiative zu verpflichten, erklärt sie weiter, „weil sie einfach unsicher sind, ob sie sie erreichen können. Andere wiederum sind gar nicht daran interessiert sich einer kollektiven Kampagne unterzuordnen oder empfinden unser freiwilliges Ziel – welches ja von den Festivals selbst gesetzt wurde – als eine ‚Quote‘“. Ein Begriff, den Reed in diesem Zusammenhang nicht mag, da er impliziert, dass das Ziel von oben diktiert würde. „Was in unserem Fall ja gar nicht stimmt“, erklärt sie weiter. „Keychange ist eine Bewegung, die von der Basis, also den Festivals an sich, ausgeht. Wir haben nicht viel investiert, um Keychange zu vermarkten. Vielmehr ist sie mithilfe von Mundpropaganda durch unsere bestehenden Netzwerke und Panel Diskussionen mit unseren Partner*innen in Europa gewachsen.“
Es geht hier gar nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen und niemand ist gezwungen, mitzumachen.
„Keychange ist vielmehr die Möglichkeit ein Statement zu setzen und mit anderen Festivals in die richtige Richtung zu arbeiten.“
Das Alínæ Lumr arbeitet seit Jahren in diese Richtung. Das ehrenamtlich organisierte Festival mobilisiert einmal im Jahr gefühlt alle Einwohner*innen der brandenburgischen Kleinstadt Storkow, um ein Zeichen für die Willkommenskultur der Region zu setzen. Beim Alínæ Lumr öffnet sich die Stadt allen Musikentdecker*innen und Vorurteilen – nicht nur in Bezug auf die politische Gesinnung. „Wir hatten dieses Jahr zu 55% Bands im Line-up, die mindestens eine Frau als Bandmitglied hatten“, erklärt mir Laureen Kornemann, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. „Wir haben es zwar nicht konkret ausgezählt, aber gefühlt ist der Frauenanteil über die letzten Jahre stetig größer geworden. Dabei achten wir gar nicht explizit darauf, das ist eher ein natürlicher Prozess. Es gibt einfach unglaublich viele gute weibliche Künstler*innen!“ „Und die gibt erst nicht seit 2018“, ergänzt Johann Schwarz, Booker beim Alínæ Lumr. „Initiativen wie We Make Waves, #anypercent oder Keychange spielen eine ganz große Rolle im Prozess der Sichtbarmachung von Frauen auf Bühnen und machen auf ein Problem aufmerksam, über das vor zehn Jahren noch nicht öffentlich diskutiert wurde.“
If you can see it, you can be it.
Die Sichtbarkeit von Frauen auf der Bühne ist deshalb so wichtig, weil populäre Musik als Teil aktueller Popkultur immer auch als Spiegel der Gesellschaft wahrgenommen wird. Wenn Frauen dabei lediglich zu einem geringen Anteil vertreten sind, werden sie schnell – unabhängig von ihrer tatsächlichen Anzahl – als unbedeutende Minderheit wahrgenommen und abgetan. Das hat der Journalistin Maren Volkmann zufolge „den Effekt, dass jede Musikerin ganz von vorne anfangen müsse, da ihr eine weibliche Tradition an Musikerinnen vorenthalten würde. So mache man jeder neuen Generation Glauben, Musikerinnen seinen etwas Neues, das es zuvor noch nicht gegeben habe.“ Das lähmt, laut der Musikjournalistin Tine Plesch, „die Wahrnehmung von Frauen als eigenständige Künstlerinnen – die es immer gegeben hat, und zwar viel zahlreicher als wir glauben – und führt auch dazu, dass Frauen mangels Vorbildern, Role Models oder weil es eben ‚anomal‘ erscheint, das Musikmachen oder über Musik-Schreiben vielleicht schneller aufgeben oder eben gar nicht erst anfangen.“
„Wir müssen jungen Mädchen zeigen, dass es innerhalb des Musikbusiness eine Reihe von Jobs gibt, die Frauen genauso machen können wie Männer – als A&R, Produzentin, Dirigentin, Senior Label Managerin, usw.“, meint auch Vanessa Reed. „Außerdem müssen wir sie dazu ermutigen, auch als Songwriterinnen Karriere zu machen. Historisch gesehen haben viel mehr Männer diesen Weg eingeschlagen als Frauen. Die unterschiedlichen Programme zur Talentförderung von der PRSF sind eine entscheidende Antwort darauf. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass auch auf der Bühne Vorbilder vorhanden sind, damit diese jungen, von uns geförderten Künstlerinnen sehen, dass ihre Ziele Wirklichkeit werden können.“ Dem pflichtet auch die Künstlerin Kat Frankie bei, die in einem Interview gegenüber dem Reeperbahn Festival meint: „Ich würde gerne noch mehr Bands sehen mit Bassistinnen und weiblichen Drummern. Das sind die Vorbilder, die junge Mädchen ermutigen, ein Instrument zu lernen. Ich glaube an die Idee ‚If you can see it, you can be it.‘ Als ich jung war, dachte ich, Ani DiFranco ist die coolste.“
„Man kauft doch Tickets für das Gesamterlebnis und das verbessert sich, wenn nicht immer die gleichen Acts auf der Hauptbühne stehen.“
Bezogen auf Festivalbooking äußert sich die Wahrnehmung von Künstlerinnen als Minderheit am eindrucksvollsten in der rechtfertigenden Abwehrhaltung, es gäbe einfach nicht genug von ihnen, um ein Geschlechtergleichgewicht in Festival Line-ups zu realisieren. „Alle, die das sagen, sind einfach zu faul über ihren Tellerrand zu schauen oder zu recherchieren. So reproduziert sich das System einfach immer wieder selbst“, meint Laureen Kornemann. Nachvollziehbare Gründe, sich als Festival nicht an der Initiative zu beteiligen, sieht sie keine: „Vielleicht, wenn sich ein Festival in einer enormen Nische bewegt, in der Frauen noch weniger gefördert werden als in anderen Genres. Keine Ahnung… Metal? Aber ganz ehrlich: Es gibt wirklich kaum Gründe. Keychange stellt niemanden an den Pranger, der die 50:50 nicht schafft, sondern gibt sogar noch Hilfestellungen beim Erreichen dessen!“ „Ich kann verstehen, dass das Ziel für Festivals mancher Musikgenres eher eine Herausforderung darstellt“, lenkt Vanessa Reed allerdings ein. „Das Roskilde Festival beispielsweise unterstützt und sponsert unser Programm, aber möchte das Versprechen noch nicht unterzeichnen, da die Ausrichtung auf Rock und Metal es ihnen schwer macht, das Ziel zu erreichen. Ich kann allerdings nicht verstehen, wenn große Festivals damit argumentieren, dass ihr Programm auf den Hauptbühnen das in großen Arenen widerspiegeln muss. Man kauft doch Tickets für das Gesamterlebnis und das verbessert sich, wenn nicht immer die gleichen Acts auf der Hauptbühne stehen.“
Anstatt also auf die ewig gleichen Acts als Ticketanschub zu setzen, sollten sich Festivals darauf fokussieren, Künstlerinnen zu fördern, um nicht nur Vorbilder zu schaffen, sondern perspektivisch dafür zu sorgen, dass auch der Pool an weiblichen Headlinern größer wird. Damit kann auch das Argument, es ginge bei Booking Entscheidungen nicht um das Geschlecht, sondern nur um Qualität ausgeräumt werden. Schließlich wird nur der*die besser, der*die immer wieder auf der Bühne steht – unabhängig davon, ob es die Hauptbühne oder eine kleinere Nebenbühne ist. Nur so kann das sich selbst immer wieder von neuem bestätigende System durchbrochen werden, in dem männliche Künstler durch ihre größere Sichtbarkeit eher gebucht werden. „Und je mehr Shows sie spielen, desto besser werden sie und sie verdienen mehr. Dann ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Männer erfolgreich sind, unterstützt von männerdominierten Strukturen. Würden wir die Ressourcen gerechter verteilen, würden viele weibliche Bands profitieren. Es ist ein sehr einfacher Weg: Gebt Musikerinnen Arbeit und bezahlt sie vernünftig!“, erklärt Kat Frankie.
„Gibt es keine Feedbackschleife, versinkt Mann schnell im Sumpf der Männlichkeit.“
Das isländische Iceland Airwaves Festival hatte in diesem Jahr einen Frauenanteil von über 50%. Ebenso wie das britische Cambridge Folk Festival, das deutsche Festival Pop-Kultur, das kanadische Mutek, die estnische Tallinn Music Week und das schwedische Way Out West, das schon seit Jahren ein Geschlechtergleichgewicht etabliert hat – und das nicht nur innerhalb der Slots am frühen Nachmittag. 2018 standen M.I.A., Lykke Li, Patti Smith, St Vincent und Lily Allen neben Iggy Pop, den Arctic Monkeys und Kendrick Lamar auf der Bühne. „Die Gründe, warum diese Festivals das Ziel erreicht haben, sind unterschiedlich“, erklärt Vanessa Reed. „In Schweden und Island hat die staatliche Politik enorm geholfen. Beide Länder sind bekannt für ihren Fokus auf geteilten Elternurlaub und künstlerischer Bildung für alle – in der Schule und zu Hause sowie ein starkes Bewusstsein für geschlechtsspezifisches Lohngefälle. Infolgedessen gibt es viele weibliche Vorbilder in der Gesellschaft und der Musik, von Robyn und Björk bis Fever Ray, Lykke Li und Abba. Das Cambridge Folk Festival und Pop-Kultur wiederum werden von starken Frauen geleitet, die langjährige Botschafterinnen für die Gleichstellung der Geschlechter sind.“
Das heißt, Männer buchen eher Männer ins Line-up und Frauen eher Frauen?
„Es kommt eher darauf an, ob der/die Booker/in ein Bewusstsein für das Problem hat, egal welches Geschlecht“, meint Laureen Kornemann. „Aber man kann sicher behaupten, dass dieses Problem insgesamt mehr Frauen am Herzen liegt als Männern, schließlich sind sie ja die ohne die Privilegierung.“ „Wir merken das auch vereinsintern, welche männlichen Privilegien und Machtstrukturen Einfluss auf das Handeln haben“, ergänzt Johann Schwarz. „Und da geht es nicht darum, ob im Sitzen oder Stehen gepinkelt werden soll. Macht wird subtil und unbemerkt ausgeübt. Gibt es keine Feedbackschleife, versinkt Mann schnell im Sumpf der Männlichkeit.“
Wichtig ist daher vor allem die Auseinandersetzung mit dem Thema. „Auch wenn sie die 50:50 nicht schaffen, wäre es ein tolles Zeichen, wenn ein Festival wie das Hurricane diese Selbstverpflichtung unterschreibt und so wiederum bei seinem Publikum ein bisschen Aufklärungsarbeit leistet“, meint Laureen Kornemann. „Der gesellschaftliche Druck wächst und macht auch vor großen Veranstaltungsagenturen keinen Halt“, ergänzt Johann Schwarz. „Ob und wie die Ziele dann umgesetzt werden, ist erstmal zweitrangig. Auch Ablehnung führt dazu, dass sich mit der Thematik auseinandergesetzt wird. Wichtig ist, dass genug Menschen für dieses Thema sensibilisiert werden.“ Und auch Vanessa Reed wünscht sich die Beteiligung weiterer, größerer Festivals: „Ich könnte mir vorstellen, dass sich einiges ändern würde, wenn ein oder zwei der größeren Festivals den Schritt wagen würden. Ich finde es inspirierend, dass sich zum Beispiel Kendal Calling und das Bluedot Festival angemeldet haben. Außerdem führen wir aktuell Gespräche mit dem SXSW darüber, wie sie sich für das Projekt engagieren können.“
Als Reaktion auf die Keychange Initiative twitterte die Künstlerin Kazabon Anfang 2018:
„They need four years to google some female acts?“
Nein, dafür reichen wenige Minuten. Aber eine Auseinandersetzung mit dem Thema, das sich nicht allein auf das einmalige Googeln von Namen oder die Erstellung von Gifs beschränkt, braucht Zeit und Festivals, die als Vorbilder den ersten Schritt wagen – wie das Alínæ Lumr mit 55% Acts, die mindestens eine Frau als Mitglied haben. Wie das Way Out West, bei dem vier von acht Headlinern dieses Jahr einen weiblichen Anteil hatten. Und das Iceland Airwaves mit einem Frauenanteil bei über 50% der Acts. Bastelt doch davon mal Gifs.