Verena Simon hat für Höme das Sacred Ground Festival 2017 inspiziert und ihre Erfahrungen in Form eines Tagebuchs festgehalten.
text Verena Simon
fotos Hanno Martius & Aline Schäfer
21. Juli, ein Freitag
Als würde ich auf eine große Reise gehen, so komme ich mir vor, als ich mein Gepäck am Nachmittag durch die proppenvolle U7 balanciere, das Zelt in der einen Hand, die Isomatte in der anderen Hand, den Schlafsack an meinem Rucksack baumelnd, den vollen Jutebeutel unter meinem Arm, und dabei dauert das Sacred Ground doch nur ein Wochenende. Und dabei geht es bei so einem Wochenende in der Natur doch darum, nicht viel zu brauchen (Müsli und Mate werden aus derselben Tasse gegessen und getrunken), und dabei habe ich auch erst nicht viel gebraucht, und dann kam die Wettervorhersage dazwischen und noch ein Pulli und eine Regenjacke und Gummistiefel haben sich dazugesellt.
Abschrecken kann uns das Wetter aber nicht, es macht nur die Autos voller und schwerer, und den ein oder anderen Berliner noch brummiger, denn ich stehe im Weg rum, aber das ist mir heute egal, denn die Vorfreude ist schlicht und einfach zu groß. Sollen die mit ihrer Schnauze doch bleiben, wo sie wollen.
Wir treffen uns am S- und U-Bahnhof Neukölln, auf dem Parkplatz von real. Drei von sieben, darunter ich, streunen durch den Supermarkt, um Chips und Cola und Rum und Gin und Gummibärchen und Brot und Kekse und Marmelade und besagtes Müsli und besagte Mate zu besorgen, und ein bisschen Obst, denn in den nächsten Tagen ernähren wir uns (fast) ungesund. Vier von Sieben spielen in den Autos Tetris, denn Sieben auf einen Streich, das geht locker, dachten wir, aber da haben wir die Rechnung ohne den Regen gemacht und nun haben alle noch einen Pulli und eine Regenjacke und Gummistiefel dabei. Fünf kommen in einem Auto unter, zwei im anderen und auch der Großteil des Gepäcks, und eine hält auf dem Beifahrersitz die Fackeln, als würden wir an den Olympischen Spielen teilnehmen, nur dass wir noch nicht Feuer gefangen haben, aber bald.
Wir schleusen uns durch volle Straßen und drehen den Regler im lauter, weil wir aufgedreht sind, und wir wippen und plappern wild durcheinander, bis es an einer roten Ampel rumst. Ein Mann winkt im Rückspiegel und wir werfen den Warnblinker an. Wir purzeln aus dem Auto, gehen nach hinten und begutachten, aber weil nichts ist, winken wir auch und steigen wieder ein und wir ziehen weiter im Schneckentempo durch den Stadtdunst, raus aus Berlin, vorbei an den Plattenbauten, die wir nur selten sehen, weil wir alle in Kreuzberg und Neukölln wohnen, in den Altbauten, nahe am Kanal oder am Tempelhofer Feld.
Wir fahren schneller, reden mehr, aber es gibt Themen, die wir in der Stadt zurücklassen, weil sie nicht zu der ausgelassenen Stimmung passen, die wir haben wollen. Drei sind auf Jobsuche, zwei haben Herzschmerz, es gibt viel zu vergessen für dieses Wochenende. Der Regler wird noch weiter nach oben gedreht, wir hören alt-J, das alte Album, das mit Matilda und mit Bloodflood und mit Something Good, weil es uns allen besser gefällt, und wir singen leise mit, ganz leise, weil es niemand so gut kann wie Joe Newman. Wir kurbeln die Fenster runter und Felder fliegen vorbei und Wiesen und Kornblumen und Mohn – Gelb, Grün, Blau, Rot, Gelb, Grün, Blau, Rot, Grundfarben, Grundtöne, Grund, Ground, Sacred Ground. Das Gute ist ja, dass wir keine Eile haben, kommt von der Rückbank und ich versuche mich zu erinnern, wann ich diesen Satz das letzte Mal gehört geschweige denn gesagt habe.
Die Uckermark ist im Abendlicht ein Anblick wie aus dem Bilderbuch und Trampe ein besonders gelungenes Kapitel. Backsteinhäuschen an Backsteinhäuschen, Garten an Garten säumen unseren Weg. Ich möchte es mir ausschneiden und an meinen Kühlschrank kleben, damit es innerhalb der
Großstadtgrenzen etwas Außerhalb gibt. Wir sind Stadtkinder, durch und durch, mit Herz und Seele. Als wir bei der Abfahrt von der Autobahn aber etwas schwer in der Kurve liegen und es uns alle in eine Richtung zieht, rieche ich die Natur und ich frage, ob es den anderen auch so geht, und da ist viel Ja und viel Nicken. Warum wir in der Großstadt leben, wissen wir gerade nicht mehr.
Wir zählen die letzten Kilometer, zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null. Da. Wir reihen uns ein, holen unsere Festivalbändchen, suchen einen Platz, bauen unsere Zelte auf, lassen uns nieder auf einem Flickenteppich aus bunten Decken (denn jede hat eine mitgebracht), wir schalten das Zeitgefühl ab und: wir atmen durch. Die Felder vor der Nase, den Himmel über dem Kopf, das Gras unter den Füßen, und ein Sonnenuntergang, der sich anbahnt, der sich auf den Autodächern spiegelt und die Zeltlandschaft umspielt, während sie wächst und wächst.
Seifenblasen schimmern, steigen auf, drehen sich und wir lassen sie ziehen, lassen keine zerplatzen oder fangen sie ein, weil sie frei sind, wie wir frei sind. Wir essen Nudelsalat und Couscous-Salat und Sesamringe und Brot mit Paprika-Aufstrich und wir spielen das erste Trinkspiel, lesen aus einem Kinderbuch und trinken abwechselnd zu den Worten „Oma“ und „Frieder“, bis es dämmert. Wir gehen von den Feldern zum Bauernhofgelände das nun Festivalgelände ist, und wir kommen an Hühnern und an einem Pony vorbei, und wieder an Häuschen mit herrlichen Gärten, an deren Zäunen die Einwohner lehnen und schauen und grüßen. Es ist eine heile Welt auf dem heiligen Boden, auf dem wir uns nun befinden, und wir tauchen ein in eine anbrechende Nacht die von Lichterketten und Lampions erfüllt ist und wir verfallen der Musik und abwechselnd sehen wir Sternschnuppen.
22. Juli, ein Samstag
Ich wache auf, weil es immer welche gibt, die alle unterhalten. Neben unserem Zelt reden zwei, lautstark, bis jemand dem Ganzen mit Zischen ein Ende setzt. Es interessiert niemanden, in welchem Zelt Nora schläft oder ob jemand ein Handtuch dabei hat oder wie lange Tim noch allein auf der Tanzfläche geblieben ist, und das um 6 Uhr morgens. Ich ziehe mir den klammen Schlafsack über die Ohren und meine Mütze tiefer ins Gesicht.
Es ist heiß, viel zu heiß, um im Zelt zu bleiben. Ich schäle mich aus dem Schafsack und aus meinem T-Shirt, hier laufen eh einige halbnackt rum, manche auch nackt. Die anderen putzen sich die Zähne mit einer Wasserflasche und ich stelle mich dazu, weil ich meine Zahnpasta vergessen habe. Wenigstens Zähne putzen. Ich zupfe meine zerzausten Haare zurecht, aber ich glaube, da ist schon nichts mehr zu retten und es ist mir auch schon egal. In der Kloschlange treffe ich Anna, die zur Gruppe nebenan gehört und dunkle Ringe unter den Augen hat, weil ihre Luftmatratze kaputt gegangen ist.
Wir fühlen uns wie Königinnen, weil wir an die Sojamilch mit Vanille gedacht habe, die wir alle so gerne trinken, und das mit dem Kaffee kochen klappt auch, also kann das mit dem Frühstück losgehen, wenn auch nicht allzu lange, denn die Sonne knallt auf unsere Köpfe und nicht alle haben einen Strohhut dabei. Also machen wir uns auf zum See, der hier irgendwo sein muss, und als wir mitten im Feld stecken bleiben, folgen wir Anderen, die auch suchen, und wir kommen zu Weiteren mit nassen Haaren und Handtüchern, hier müssen wir also lang. Wir folgen einem rutschigen Pfad nach unten und landen auf einen alten Holzsteg, der halb im See versinkt.
Die Windräder begleiten uns im Takt, als wir mit schnellen Schritten zurück zu den Zelten eilen, denn nun kommt es doch, das Gewitter, nun sind wir zu kurz, zu kalt angezogen. Der Boden weicht in Windeseile auf, aber wir stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde, und unser Zelt ist undicht, aber wir haben keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Wir flüchten unter ein Vordach, das nicht uns gehört, ziehen lange Hosen und Leggings an, werfen Regenjacken und Ponchos über, schlüpfen in Gummistiefel und machen uns noch mehr Glitzer ins Gesicht, damit es auch hält.
Wir laufen unter Regenschirmen durch Pfützen in ein schönes Schlammassel, das uns auf dem Festivalgelände erwartet. Trotzdem tanzen wir zu Sounds, die uns an den Dschungel erinnern, und wir rufen uns Tierlaute zu, bewegen uns wie Panther, wir stellen uns vor, wie wir von Liane zu Liane hangeln, und es vergehen Stunden, bis wir damit aufhören und kurz auf einer Couch einnicken, die einfach da steht, als hätte sie auf uns gewartet.
23. Juli, ein Sonntag
Es ist dunkel und ich lausche den kleinen Dramen des Lebens. „I don´t remember that“, sagt einer und wirft die Arme in die Luft und eilt einer hinterher, die ziemlich genervt ist. Ich starre in den Himmel und sehe Sterne, endlich viele Sterne, und ich bin auf einem anderen Planeten angekommen, in einem anderen Universum, in einer anderen Galaxie und das zu keiner Zeit. Der Boden vibriert, denn vor mir wippen Einige im Einklang in einem Zirkuszelt, und irgendwo darunter sind meine Freunde, aber nicht alle, denn wir sind uns verloren gegangen. Mit der Dunkelheit trennt sich der einsame Wolf vom Rudeltier.
Der Nebel kriecht über die Felder und hüllt alles in Verschwiegenheit, während wir schleichen, vorbei an den Schlafenden, nach einer umtanzten Nacht. Der Beifahrersitz lässt sich nicht nach hinten klappen, aber das Auto ist besser als das nasse Zelt und ich bin klein, die Rückbank tut es also auch. Die Scheiben sind angelaufen und die ersten Sonnenstrahlen werfen ein seichtes Licht auf die Rucksäcke, die Klamotten, die Handtücher und die Essenreste, die mich umzingeln. Ich schließe die Augen, bevor der Morgen noch mehr zum Morgen wird.
Für einen kurzen Moment weiß ich nicht, wo ich bin, und meine Knie tun weh, also schaue ich an mir herunter, Bestandsaufnahme. Überall hängt Glitzer, auf meinem Hals, meinen Schultern, meinem Dekolleté, meinem Bauchnabel, meinen Beinen, die von Mückenstichen, Sonnenbrand und blauen Flecken strotzen, vom Festival gezeichnet. Ein Blick in den Fahrerspiegel reicht für meine verquollenen Augen. Ich schneide mir selbst eine Grimasse, knote meine Haare zusammen, kombiniere Gummistiefel zu Shorts und steige aus. Die Wolken sprechen Bände, der Tag fällt ins Wasser. Vielleicht sollte ich mich einfach in den Regen stellen, denke ich kurz, aber ich bin es längst gewohnt, dass alles klebt, also darf das Glitzer bleiben, wo es ist.
Wir bauen die Zelte ab, nass sind sie schon, aber noch nasser müssen sie nicht werden, und wir auch nicht, also brechen wir auf. Wir frühstücken, was wir noch haben, damit wir es nicht mitnehmen müssen, denn die Autos sind noch immer voll genug, voll von einer Stille vor allem, die sich ausbreitet, weil uns der Schafmangel ins Gesicht geschrieben ist und es nicht viel zu sagen gibt, nur viel nachzuempfinden, es ist ein leises geerdetes Glücksgefühl.
Wir kommen zurück, trennen unsere Wege, gehen nach Hause und duschen, fühlen uns frisch, fühlen uns einsam, also beschließen wir, auch diesen Abend gemeinsam zu verbringen. Wir treffen uns am Hermannplatz, wir holen Glasnudelsalat beim Vietnamesen, und wir setzen uns auf einen Balkon, über den Dächern Berlins und die Sonne geht unter und die Gedanken schweifen ab, der Festival-Modus hält an, überdauert den Tag, die Nacht.