text Isabel Roudsarabi
fotos Factory92, Tomorrowland
lesezeit 7 Minuten
Die diesjährige Ausgabe des Tomorrowland hat eine Million (!) Zuschauer*innen aus der ganzen Welt für ein Wochenende in einer digitalen AR Umgebung zusammengebracht. Wir berichten, warum dieses Festival so revolutionär und richtungsweisend war und warum auch Silvester trotz Social Distancing noch besonders werden kann.
Katy Perry schwebt in einem Heißluftballon über die Mainstage. Der Ballon ist das Abbild eines Clowns. Er schaut sanftmütig, lächelt ein wenig. Neben der Bühne: Zwei gigantische Statuen, aus deren Schildern Wasserfälle fließen, die zwischen Stage und Zuschauenden verschwinden. Mal tanzen vor der Bühne über dem Publikum unzählige, riesige Luftballons herum, mal ist die Stage mit rosafarbenen Lichtpunkten überzogen. Auf der Bühne angekommen, steigt Katy Perry aus dem Korb des Ballons und performt vor ihrer Band, dessen Mitglieder große, rote Zylinder tragen, die ihre Köpfe verdecken.
Zum Abschluss: “Firework” und Feuerwerk.
Es ist eine magische, unwirkliche Show. Unwirklich deshalb, weil sie so nie stattgefunden hat, und man sie trotzdem bewundern durfte. Eigentlich stand die Künstlerin nämlich in einem Green Screen Studio in L.A., wo die Performance aufgezeichnet wurde. Durch neuste AR Technologie wurde sie später in die wilde Umgebung der Tomorrowland Around the World Mainstage gebastelt.
Vom Green Screen nach Pāpiliōnem
*hier wird's ein bisschen nerdy
Mit im Line-up standen außerdem DJ-Größen wie David Guetta, Charlotte De Witte, Steve Aoki oder Amelie Lens. Sie alle hatten die Chance, auf einer von acht fantastischen Bühnen aufzutreten. Die Shows wurden in einem der vier Green Screen Studios in Belgien (Boom), den USA (Los Angeles), Brasilien (Sao Paolo) oder Australien (Sydney), mit jeweils vier Ultra HD Kameras und 34 virtuellen Kameras aufgenommen. Alle Studios wurden für die Produktion umgebaut, dabei kamen sogenannte Zykloramen, oder Infinity-Walls zum Einsatz. Außerdem wurden die Bewegungen aller Kameras mit Infrarottechnik getrackt, die die Informationen dann für Regie und Kameraleute auf einen Server übertrugen, um so Augmented-Reality-Effekte in Echtzeit einzufügen. Dafür hat das Festival eng mit stYpe zusammengearbeitet, mit deren Technologie diese Übertragung möglich geworden ist.
Normalerweise arbeitet die Firma etwa an den Olympischen Spielen, dem Superbowl oder den MTV-VMAs.
Nach den Aufnahmen wurden alle Elemente auf zwei verschiedenen Plattformen digital zusammengesetzt: Depence für alle Indoor und Unreal Engine für alle Outdoor-Bühnen. Dabei wurde die digitale Tomorrowland Welt mit zehnmal mehr Polygonen und Lichtern ausgestattet, als ein modernes Computerspiel. Jede Outdoor-Bühne hatte etwa eine Fläche von 16 Quadratkilometern, mit 32.000 Bäumen und Pflanzen und über 280.000 virtuellen Menschen, die jeweils mit Attributen wie Flaggen oder Lichtern ausgestattet waren. Dazu kamen Soundeffekte, die die eines Publikums widerspiegeln sollten: Applaus oder die klassischen "Whoaho"s, bei deren Aufnahmen die Mitarbeitenden des Tomorrowlands die Hauptrolle spielen durften. Alle Scheinwerfer, die auf den Bühnen von Pāpiliōnem, der eigens für das Event kreierten 3D Insel, zu sehen waren, wurden handgezeichnet. 750 Stück waren es insgesamt. Ben Lumsden, Business Development Manager bei Epic Games - Unreal Engine berichtet über den Prozess: "Tomorrowland Around the World vermischt gekonnt traditionelle Techniken wie Live-Kameraschneiden mit unserer neuen DMX-Lichtsteuerungsintegration, und das alles innerhalb der Immersion von Unreal Engine, wodurch eine neue digitale Reise entsteht, die die Menschen auf der ganzen Welt in ihren Bann ziehen wird."
Alle Arbeitsschritte wurden vom hauseigenen Kreativteam und den 2D-Künstler*innen des Tomorrowland begleitet, die auch in normalen Jahren für die Gestaltung der Bühnen und Kunstwerke des Festivals zuständig sind. Viele der genutzten Technologien, hatten vor der Produktion noch gar nicht alle gewünschten Features und wurden so sogar durch den Prozess mit verschiedenen Teams weiterentwickelt.
Spielen & Inspirieren
Soweit die Technik. Aber wie hat es sich denn nun angefühlt, in die virtuelle, wie ein Schmetterling geformte, Insel Pāpiliōnem einzutauchen?
Strände, Berge, Wälder, Sonnenauf- und untergänge, wechselnde Jahreszeiten. Die Erkundung der Spielumgebung des diesjährigen Tomorrowland war mindestens visuell ein Abenteuer. Neben den acht Bühnen, die sich natürlich am fantastischen Design der regulären Tomorrowland-Bühnen orientierten, gab es weitere Orte zu entdecken, mal interaktiv, mal zum durchscrollen, mal zum informieren oder shoppen. Durch einen einfachen Klick auf die jeweilige Location wurde man in die Aktivität hineingezoomt. Zusammen mit den Getränkepartnern des Festivals konnte man sich so zum Beispiel die besten Cocktail-Rezepte für den at-home Festivalabend herunterladen oder in einer virtuellen Bücherei bei einem Quiz über das Tomorrowland Tickets für 2021 gewinnen.
Wie man das von Online-events so gewohnt ist, fand man in Chat und Gäst*innenbuch jetzt nicht umbedingt literarische Ergüsse, sondern eher aufgedrehte "Greetings from [hier Land der Wahl einfügen]", oder zeilenlange Abfolgen von Emojis. Irgendwie ist das aber auch in Ordnung, ein bisschen bildet das eben auch das Publikum des Festivals ab und ließ einen, auch, wenn man das Event allein vom heimischen Bett aus genoss, nicht ganz so einsam fühlen.
Pāpiliōnem wurde gemeinsam mit dem multidisziplinärem Kreativstudio Dogstudio entworfen, dessen kreativer Leiter und CEO Henry Daubrez von der Bedeutung erzählt, die die Kommunikation zwischen den Festivalbesuchenden hat: "Unsere größte Herausforderung - abgesehen davon, dass es sich offensichtlich um eine enorme technische Herausforderung handelt - besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Festivalbesucher das Gefühl haben, Teil von etwas Größerem als ihrem Computer und ihrer Internetverbindung zu sein."
Natürlich gab es in gewohnter Tomorrowland-Manier auch einen direkt ins Erlebnis integrierten Shop in dem man man wieder die Grenzen des Möglichen im Merch-Universum bestaunen konnte. Tomorrowland-Uhren, -Flaggen, -JBL-Boxen, eine ganze Klamotten-Kollektion. Wer durch die wirklich günstigen Eintrittspreise also noch ein bisschen Cash übrig hatte, konnte sich dort zur Genüge austoben.
Und dann die Inspiration-Sessions. Von den Veranstaltenden so groß angekündigt, waren es um die 20 Video-Botschaften/Mini-Dokumentationen von Prominenten und Unternehmer*innen, die einem, mal mehr, mal weniger, nützliche Inspirationen mit auf den Weg geben sollten. Basketball-Legende Shaquille O'Neal's Beitrag war etwa ein anderthalb Minütiges Video von seinem DJ-Auftritt auf dem Festival, mit ein paar eher dürftigen Aussagen ("Blew it up") unterlegt. Dafür sprach Black Eyed Peas Mitglied Will.I.Am ein bisschen ausführlicher über seine I.Am.Angel Foundation, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund Zugang zu mehr Bildung und Chancen ermöglichen will:
What everybody can do is fall in love with music even more. Music is not racist. Music doesn’t see black and white. Fall in love with music and you're gonna love the culture that it comes from. And you're gonna appreciate the artist.
Und Boyan Slat, CEO von The Ocean Cleanup erzählte in seiner Session davon, dass wir unsere pessimistische Weltanschauung ab und an auch mal beiseite legen können und uns darauf fokussieren, Lösungen für die Technologie-gemachten Probleme zu finden, anstatt an ihnen zu verzweifeln. Wie Arnoud Raskin, Gründer von StreetSmart, Streetwize und der Mobile School in seinem Video sagte: "Do not think of a problem as a problem, but as an opportunity."
Never stop the music
Neben den ganzen spaßigen, kurzweiligen Aktivitäten, die Pāpiliōnem zu bieten hatte, lag der Fokus natürlich auch in diesem Jahr auf der Musik. Hochkarätiger besetzt hätte das Line-up nun wirklich nicht sein können. David Guetta beteuerte Sonntag Abend vor seinem Auftritt, ein fast ausschließlich exklusives Set zu spielen und Afrojack, Katy Perry, Paul Kalkbrenner, Steve Aoki, Armin van Buuren und Residents Dimitri Vegas & Like Mike reichten sich etwa am Samstag auf der Mainstage die Turntables weiter. Die Qualität der Musik war natürlich immer auch ein bisschen vom heimischen Endgerät abhängig, aber durchaus auch mit Kopfhörern vom Handy oder Uralt-Laptop aus zu genießen.
Generell war jede der Bühnen ein kleines Highlight für sich. Die Umsetzung der Lasershows, Feuerwerke, Projektionen und Features wie etwa schwebenden Meteoriten in der zwischen Tropfsteinhöhle und Weltall designten Core Stage, ließ Festival- und Augmented Reality-Träume (virtuell) wahr werden. Von einer märchenhaften Welt, konnte man so in die andere treiben, vom riesigen Amphitheater, über die Waldbühne mit Göttinen-Büste auf die Aprés-Ski Party. Letzteres fand in der, zugegeben recht trashigen, Moose Bar statt, die jeweils von 18-01 Uhr durchgängig bespielt wurde und einer Skihütte inmitten verschneiter Bergen nachempfunden war.
Freedom
Ab in die Streaming Zukunft?
“Mit dieser Ausgabe unseres Festivals erfüllen wir auch den Wunsch unserer globalen Community, diesen Sommer ein Projekt zu organisieren, das alle zusammenbringt.”, erzählt Gründer Michiel Beers vor dem Festival. Mittlerweile kann man bestätigen, dass dieses Ziel erreicht wurden ist. Eine Million Menschen aus der ganzen Welt waren bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals dabei, haben sich über den Chat ausgetauscht und aus der Ferne eine Gemeinschaft gebildet. Die Social Wall aktualisierte sekündlich mit Fotos aus den Wohnzimmern oder Gärten der Zuschauer*innen, die ihre eigenen kleinen Tomorrowland's feierten und auch, wenn man allein vor dem Laptop ein bisschen im Zimmer ravte - das Gefühl, ein Teil dieser weltweiten Community zu sein, kam definitiv auf.
Mit den neu entwickelten Technologien hat das Festivals außerdem neue Standards für virtuelle Konzerte gesetzt und Ideen verwirklicht, die einen großen Schritt in Richtung der Verbindung von Computerspiel und Festival- oder Konzerterlebnis gehen. Und das mit einem Maß an Detailverliebtheit und Videoqualität, die unglaublich erscheinen, wenn man bedenkt, dass das Projekt in nur drei Monaten umgesetzt wurde.
Gewinn hat diese Ausgabe des Festivals keinen erwirtschaftet. Und klar ist auch, dass so ein Projekt für das 3.000er Festival von nebenan kaum umsetzbar ist. Trotzdem haben wir gesehen:
Auch wenn es nie das Gleiche sein wird, Festivalgefühl in Zeiten von Social Distancing und Hygienekonzepten zu erzeugen, ist nicht unmöglich.
Und wie geht es jetzt weiter? Natürlich hoffen wir alle auf eine halbwegs reguläre Festivalsaison 2021. Um umfangreiche Hygienekonzepte und Kapazitäts-Einschränkungen werden wir wohl nicht drumrum kommen, aber mal wieder physisch auf einem Festival zu stehen, wäre, trotz der so ausgereiften AR-Technik, dann doch wünschenswert. Trotzdem müssen wir uns bis dahin wohl noch ein bisschen gedulden und so haben die Organisierenden des Tomorrowland sich auch um's Social Distancing an Silvester Gedanken gemacht. Am 31.12.2020 wird von 20-03 Uhr nochmals die digitale Welt des Festivals geöffnet. Diesmal heißt sie NAOZ und bietet vier Bühnen, auf denen Acts wie Major Lazer, Boys Noize oder Lost Frequencies auflegen werden. Auch in Zukunft soll die digitale entertainment Venue über das ganze Jahr bespielt werden. Für ein bisschen Wartezeitüberbrückung und Aufregung für den sonst doch wohl in diesem Jahr eher unspektakulären Silvesterabend ist damit schonmal gesorgt.