Ein kleiner Stadtpark, ein paar Kumpels mit einer fixen Idee und großer Lust auf eine gute Party - herausgekommen ist dabei vor über 10 Jahren die erste Ausgabe des heutigen Electrisize Festivals. Doch was muss alles passieren ehe am Ende 25.000 Menschen auf dem Platz stehen, man trotz einer weltweiten Pandemie stattfinden kann und das ganze Festival dabei noch familiär, authentisch und energiegeladen bleibt?
text Sonni Winkler
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Electrisize Festival
lesezeit 7 Minuten
bildunterschriften Mouseover über das Bild
Gemeinsam mit Gründer Michi und Rabea von der Kulturgarten GmbH haben wir eine kleine Zeitreise gemacht und die Anfänge des Electrisize Festivals bis ins Hier und Jetzt nachvollzogen. Wir sprechen über verloren geglaubte Stehtische, einen leicht verwirrenden Start in den Tag für den jungen Avicii und darüber, wie man Inklusion ganzheitlich denken kann.
2009
Besucher:innen: 400
Bühnen: 1
Artists: 7
Headliner:innen: -
Der Moment des Jahres: Am nächsten Morgen fehlten 3 Stehtische, die in einem benachbarten Tümpel versenkt wieder aufgefunden wurden.
So richtig angefangen hat es schon vor über einem Jahrzehnt, wie so viele Dinge, mit einer fixen Idee. Ein paar Freund:innen aus dem Rheinland hatten Lust auf eine Party unter freiem Himmel mit elektronischer Musik. Gesagt, getan - sie gründeten eine Studi-VZ Gruppe, die auch schon damals den Namen “Electrisize” trug. Nach mäßigem Rücklauf “haben wir uns das dann einfach vor die Brust genagelt und sind losgelaufen” - Getränke bestellen, ein paar Flyer verteilen und befreundete DJs buchen. Einen richtigen Vorverkauf gab es gar nicht, die Jungs haben mit 150-200 Leuten gerechnet. Doch am Ende kamen knapp 400. Wegen des Ansturms wurden kurzerhand noch ein paar Gäst:innen als zusätzliches Sicherheitspersonal rekrutiert.
2010
Besucher:innen: 1.000
Bühnen: 1
Artists: 7
Headliner:innen: Avicii
Der Moment des Jahres: Avicii war in einem kleinen Hotel im Nachbarort untergebracht. Als er am Morgen nach seinem Gig zum Frühstück gehen wollte, saßen rund um ihn herum betagte Herren zum traditionellen Frühshoppen mit Skat und Bier.
2013
Besucher:innen: 3.000
Bühnen: 2
Artists: 30
Headliner:innen: Tujamo, Sick Individuals, Sydney Charles, Steffen Deux
2013 fand das Electrisize Festival nach Jahren der Wanderschaft ein festes Zuhause, das auch bis heute noch bestand hat. Seitdem wird das Event auf einer riesigen Wiese hinter dem Haus Hohenbusch, einem ehemaligen Kloster süwestlich von Erkelenz, gefeiert. Dieser Umstand bot den Veranstaltenden völlig ungeahnte Möglichkeiten.
Der Wunsch dort etwas zu veranstalten bestand schon länger und nachdem die Skepsis der Stadt und des ortsansässigen Deichvereins überwunden und Vertrauen aufgebaut wurde, konnte es richtig losgehen. Neue Bühnen und Flächen wurden gebaut, doch das sollte nur der Anfang sein. Gründer Michi erzählt, dass sie 2013 nur etwa ein Zwanzigstel der Fläche genutzt haben, die 2019 bespielt wurde. Man könne es sich so vorstellen:
Dort wo sich 2013 noch das gesamte Festivaltreiben abspielte, gab es 2019 allein das Crewcatering.
2015
Besucher:innen: 8.000
Bühnen: 4
Artists: 60
Headliner:innen: Oliver Heldens, Bassjacker, Don Dioablo, Format:B, Le Shuuk
Der Moment des Jahres: Als Oliver Heldens verpennte, fast den Gig verpasste und im Hotel wachgeklingelt werden musste.
Michi erinnert sich, wie es "ihnen eigentlich ein zu großer logistischer Aufriss gewesen sei" zusätzlich zum Festival noch einen Campingplatz zu organisieren. Doch nach vielen Anfragen von Fans und Besuchenden, kam es 2015 dazu, dass es von nun an auch einen Campingplatz gab.
2019
Besucher:innen: 25.000
Bühnen: 7
Artists: 120
Headliner:innen: Bart Skils, Da Tweekaz, D-Block & S-Te-Fan, Finch Asozial, Gestört ab Gerik, Nura, Pappenheimer, Sub Zero Project, Warface
10 Jahre Electrisize Festival - Whoop, whoop!
Michi erzählt, dass schon von Anfang an beim Electrisize auf eine möglichst barrierearme Geländegestaltung geachtet wurde. Menschen mit Behinderung sollte der Zugang zum Feiern immer möglich sein. Begleitpersonen bekommen schon lange freien Eintritt zum Festival.
Doch 2019 gab es einen neuen Schritt hin zu einer ganzheitlichen Inklusion. Gemeinsam mit der Lebenshilfe Heinsberg wurde eine völlig neue und inklusive Area gestaltet. In der Secret Arcade feierten Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam eine Silent Disco. Als Act trat beispielsweise ein DJ aus Polen auf, der im Rollstuhl sitzt und seine Arme nicht mehr benutzen kann.
Er legte das gesamte Set mit seiner Nase auf und wurde nach seinem Gig auf dem Electrisize zu einer kleinen Berühmtheit in Polen.
Mit Hilfe eines Tandem-Prinzips betreuten Menschen mit Behinderung die gesamte Spielfläche. Sie standen hinter der Bar, sammelten die Kopfhörer vor und nach dem Konzert ein und reinigten sie. Außerdem konnten sich Menschen im Außenbereich der Area über die Möglichkeit informieren, einen Freiwilligendienst bei der Lebenshilfe zu machen. Spenden, die über das Festival hinweg gesammelt wurden, kamen ebenfalls der Lebenshilfe zu Gute und wurden dafür eingesetzt, DJ Workshops für Menschen mit Behinderung anzubieten.
Seit 2021 ist auch die Aktion Mensch mit dabei. Für die nächsten Jahre sind außerdem viele weitere Projekte angedacht.
2020
Electrisize
Besucher:innen: 0
Bühnen: 0
Artists: 0
Electricity
Besucher:innen: 2.400
Bühnen: 1
Headliner:innen: Coone, Da Tweekaz, Le Shuuk, LNY TNZ, Maurice West, Ostblockschlampen, Sckokkverliebt, Sub Zero Project, VIZE
War das Jahr 2020 für die gesamte Festivalwelt fast gänzlich eine Tragödie, so haben die Macher:innen des Electrisize Festivals daraus mit einer Menge Kreativität und vor allem Mut trotz allem noch etwas geschaffen.
In einem großen Kraftakt stapften sie innerhalb weniger Monate ein komplett pandemie-gerechtes Konzept aus dem Boden. Nach der Bundesverordnung vom 15. April, dass Großveranstaltungen bis Ende August nicht mehr stattfinden würden, stellten sich zunächst auch beim Electrisize Team ähnliche Sorgen ein, wie in ganz Deutschland. “Wie können wir den Ticketbesitzern eine faire Lösung anbieten? Wie können wir bereits abgeschlossene und zum Teil bezahlte Verträge mit Künstlern und Dienstleistern auf 2021 verschieben, sodass wir nicht auf den Kosten sitzen bleiben?
Es wurde klar, dass das Electrisize Festival so wie man es kannte, 2020 nicht stattfinden könne.
Doch nach kurzem Erstarren wurde sofort wieder in die Zukunft geblickt und überlegt, welche Möglichkeiten sich noch boten. Schnell wurden die ersten Autokino- und Autokonzertveranstaltungen in Erkelenz und Heinsberg organisiert.
Seit Beginn der Pandemie wurden sämtliche Coronaschutzverordnungen durchforstet und plötzlich stieß das Team darauf, dass Campingplätze wieder öffnen konnten.
Also warum nicht auch Festivalcampingplätze?
So wurde die Idee für die Spezialausgabe - die Electricity - geboren.
Da fing die Uhr plötzlich an zu ticken:
7 Wochen waren es noch bis zum geplanten ersten Wochenende - Von der grundsätzlichen Idee bis zur ersten Skizze, die bereits das kreisförmige Prinzip der Sektoren und der 360° Stage in der Mitte beinhaltete, lag nur wenig Zeit.
Am 18. Juni, also gerade mal 3 Wochen später, sind wir dann schon mit der fertigen Geländezeichnung und dem Konzept online gegangen. 2 Tage später (4 Wochen vor dem 1. Wochenende) sind wir in den Vorverkauf gegangen.
Nach der erfolgreichen Durchführung des Electricity war den Veranstaltenden sofort klar, dass sie dieses Format auch außerhalb von Corona, parallel zum normalen Festival weiter verfolgen wollen.
Als schönsten Moment bezeichnet das Team die Eröffnung des Geländes am 1. Wochenende. Nach vielen kurzen Nächten und Stunden auf dem Gelände, schlug ihnen die riesige Dankbarkeit der Besuchenden entgegen. Dafür habe sich der ganze Stress und Druck mehr als gelohnt.
2021
Nun sind wir schon wieder in der Jetzt-Zeit angelangt und natürlich steht das Organisationsteam weiterhin keine Sekunde still. Neben weiteren Autokino- und Konzertveranstaltungen betreiben sie seit ein paar Wochen zwei Drive-In und ein Walk-In Testzentrum in der Region. Michi beschreibt, "dass es eigentlich nichts anderes ist als ein Event zu organisieren. Man muss ein Zelt aufbauen, ein Ticketsystem einrichten und im Hintergrund muss Support geleistet werden. Die Leuten tanzen zwar nicht vor Ort, aber sie bekommen 'nen Nasenabstrich.”
Außerdem fügt Rabea hinzu "könne man so noch einen Teil gegen das Infektionsgeschehen in der Region tun und die Testkapazitäten für die eigene Veranstaltung hochschrauben."
Wie genau das Electricity dieses Jahr stattfinden wird, können Michi & Rabea noch nicht endgültig sagen. Man müsse schlichtweg die Entwicklungen beobachten. Jetzt bereits sichere Aussagen zu treffen, sei nicht möglich und würde nur an ihrer Glaubhaftigkeit kratzen.
Beim Blick in die Zukunft wünschen sie sich, dass es wieder mehr Planungssicherheit gibt und die kräftezehrende Arbeit ins Nichts hinein aufhört.
Fragt man die Veranstaltenden nach den Lehren aus über einem Jahrzehnt Festival zeichnet sich ein deutliches Bild:
Wir wollen auf dem Boden bleiben, uns trotzdem nicht auf Erfolgen ausruhen und immer am Fortschritt weiterarbeiten. Grobe Fehler vermeiden, dafür aus den gemachten lernen und uns nie ein Limit bei unserer Kreativität setzen.
All das macht das Electrisize Festival zu dem, was es ist - eines der innovativsten Festivals der Region, bei dem die „Esize Family“ keine hohle Phrase ist, sondern einen familiären Zusammenhalt beschreibt, der von Sekunde eins bis heute herrscht und genau das ist, worauf die Macher:innen so unendlich stolz sind.